Die Paritätische Forschungsstelle hat heute eine bahnbrechende Berechnung zur Wohnarmut in Deutschland veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen ein alarmierendes Bild: Deutlich mehr Menschen als bisher angenommen leben in Armut, wenn die Wohnkosten berücksichtigt werden. Die steigenden Mieten belasten vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen überproportional. Viele Haushalte geben inzwischen mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Wohnkosten aus - manche sogar mehr als die Hälfte. Margit Berndl, Vorständin des Paritätischen in Bayern, findet deutliche Worte für dieses Ergebnis: „Die Expertise belegt, was in unserer täglichen Arbeit längst aufschlägt: dass hohe Wohnkosten immer mehr Menschen in Armut bringen. Sie tragen massiv zur Verschärfung sozialer Ungleichheit bei.“
Die Armut in Deutschland liegt, wenn die Wohnkosten berücksichtigt werden, um ein Drittel höher als bislang angenommen. In absoluten Zahlen ausgedrückt: Durch die Berücksichtigung von Wohnkosten wird eine bislang unsichtbare Gruppe von 5,4 Millionen Menschen sichtbar, die an und unter der Armutsgrenze lebt. Nicht 12,1 Millionen (14,4 %), sondern 17,5 Millionen Menschen (21,2 %) müssen demnach als arm gelten. Besonders hohe Wohnarmut gibt es in Bremen (29,3 %), Sachsen-Anhalt (28,6 %) und Hamburg (26,8 %).
In Bayern sind zwar im Vergleich zu anderen Bundesländern weniger Menschen von Armut betroffen. Hier beträgt die kostenbereinigte Armutsquote 16,3 Prozent, d.h. immerhin ca. 2,14 Mio. Personen. Die konventionelle Armutsquote liegt bei 11,4 Prozent (ca. 1,52 Mio.). Eine hohe Belastung durch steigende Mieten ist auch in Bayern deutlich spürbar, vor allem in den Großstädten wie München, aber auch im Einzugsbereich der anderen Städte. „Die Wohnungsknappheit verstärkt das Ansteigen der Mieten, so dass es auch mit durchschnittlichen bis guten Einkommen immer schwieriger wird, die Miete zu bezahlen“, führt Berndl aus. Das führe dazu, dass sich die Menschen immer mehr einschränken und nach Abzug der Mietkosten mit immer weniger Einkommen um die Runden kommen müssen. Überproportional belastet sind unter anderem Rentner*innen, Alleinerziehende oder größere Familien.
Massiv betroffene Gruppen im Bundesgebiet sind:
- Menschen ab 65 Jahren: 27,1% Armutsquote
- Junge Erwachsene (18-25 Jahre): 31% Armutsquote
- Alleinerziehende: 36 % Armutsquote
- Alleinlebende: 37,6 % Armutsquote (im Rentenalter sogar 41,7 %)
- Erwerbslose: 61,3 % Armutsquote
Ein-Personen-Haushalte und Alleinerziehende sind in hohem Maße armutsbetroffen. Frauen mehr wie Männer. Stärker betroffen sind auch Familien ab drei Kindern.
Der hohe Anteil junger Erwachsener und Älterer ist vor dem Hintergrund einer Erwerbsgesellschaft erklärbar. Die jungen Erwachsenen stehen am Anfang der Erwerbstätigkeit oder sind in Ausbildung. In den Universitätsstädten sind auch Studierende häufig von der wohnbereinigten Armut betroffen. Allgemein ist eine hohe Vulnerabilität bei jungen Erwachsenen ungünstig für die berufliche Chancengleichheit im Rahmen der Berufsausbildung, wie die Studie ausführt. Die meisten Menschen ab 65 Jahren befinden sich im Ruhestand. Niedrige Renten führen zum bekannten Phänomen der Altersarmut.
„Wohnen entwickelt sich mehr und mehr zum Armutstreiber", erklärt Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. „Die Schere geht durch die steigenden Wohnkosten immer weiter auseinander.“
Die Expertise unterbreitet Vorschläge, mit welchen sozialpolitischen Maßnahmen die Armutslücke geschlossen werden kann.
Die Zahlen unterstreichen die Notwendigkeit einer ambitionierten Wohnungspolitik. Armutsbekämpfung erfordere eine Begrenzung der Wohnkosten. Deshalb müsse auf das bestehende Marktgeschehen stärker Einfluss genommen werden. In der Diskussion ist aktuell die 2015 eingeführte und Ende 2025 auslaufende Mietpreisbremse. Mit dem Ende der Ampel-Koalition könnte die eigentlich bis Ende 2028 geplante Verlängerung wegfallen. Es drohen massive Preissteigerungen in angespannten Wohnungsmärkten.
Der Paritätische Gesamtverband ruft darüber hinaus die künftige Bundesregierung auf neue, dauerhaft sozial gebundene Wohnungen zu schaffen.
„Eine zielgerichtete Politik zur Vermeidung von Armut in Deutschland braucht gute Löhne, bessere soziale Absicherung und eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält“, fasst Joachim Rock die Expertise zusammen.
Die Expertise basiert auf einer Sonderauswertung durch das Statistische Bundesamt. Sie berücksichtigen erstmals die tatsächlich verfügbaren Einkommen nach Abzug der Wohnkosten (Warmmiete und Strom). Basierend auf den Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurden die Einkommen um die Wohnkosten bereinigt und so eine Wohnarmuts-Grenze ermittelt. Diese Wohnarmuts-Formel macht ein bislang unsichtbares Ausmaß der Armut sichtbar. Die vollständigen Expertise finden Sie untenstehend zu Download.
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