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Die Demokratie braucht uns!
"Jede und jeder ist mit ihrem Engagement eine Säule der Gesellschaft!": Anlässlich der Verleihung des Luise Kiesselbach Preises im Dezember 2023 sprach Claudine Nierth, Sprecherin der Bürgeraktion Mehr Demokratie e.V., über die Bedeutung des Bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie und sozialen Zusammenhalt.
Wir leben in einer Zeit, in der sowohl die Demokratie als auch der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet sind, und in der es auf das Engagement eines jeden Einzelnen umso stärker ankommt.
Noch vor 12 Jahren lebte ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Demokratie. Wir gingen damals davon aus, dass die Tendenz weiter steigt und sich das Modell Demokratie als die bessere Staatsform weltweit durchsetzen wird. Mitnichten! Heute leben nur noch 30 Prozent der Menschen auf diesem Planeten in einer Demokratie und 70 Prozent in einer Autokratie. Selbst hier bei uns, in einer der stärksten und stabilsten Demokratien dieser Erde, zweifelt inzwischen jeder Zweite an der Demokratie. Und an der Demokratie zu zweifeln, ist vor allem ein Misstrauensvotum gegenüber den anderen Menschen. Denn Demokratie lebt vor allem von und durch die anderen, mit denen wir unsere Lebensformen gemeinsam gestalten oder bestimmen.
Die Demokratie war bisher der Rahmen, innerhalb dessen wir unsere unterschiedlichen Interessen ausgehandelt und uns geeinigt haben. Eine stabile Ehe kann auch einen heftigen Streit am Küchentisch aushalten und die Partnerschaft hält dennoch. So hielt uns als Gesellschaft bisher auch die Demokratie zusammen, auch wenn es manchmal kontrovers wurde. Doch jetzt erleben wir, wie der demokratische Rahmen, das was uns bisher zusammenhielt, selbst in Zweifel gezogen wird. Was, wenn die Gesellschaft einfach auseinanderfällt? Wenn der Zusammenhalt verloren geht und Spaltung sich durch unsere Familien, Freundeskreise, unser Berufsleben und unsere Gesellschaft zieht? Ich nehme an, Sie alle wissen, was ich meine.
Doch Spaltung entsteht nicht irgendwo da draußen. Nein, Spaltung entsteht immer in uns. Indem wir uns von etwas oder jemandem zurückziehen oder abwenden. Wenn wir etwas hören oder sehen, was wir ablehnen, wenden wir uns ab. Wir verbannen! Wir grenzen aus, aus unserem Freundeskreis, aus unserer Gesellschaft. Es gibt Menschen, mit denen wollen wir nicht mal mehr die Demokratie teilen. Ist es nicht so? Ich möchte mich nicht davon ausnehmen: Auch ich mache andere zu anderen, indem ich sage: „Ach, wenn es doch die anderen nicht gäbe, wäre alles viel besser, leichter und schöner.“ Auch ich ertappe mich immer wieder, dass ich an den Rand dränge, was mir nicht gefällt. Und sei es nur innerlich. Den Nachbarn, die Kollegin – die anderen. Immer wieder hören wir Meinungen und Positionen, die wir einfach nicht teilen, die wir nicht aushalten wollen.
Ja, in einer Demokratie, in einer Gesellschaft gibt es auch Positionen, die wir verachten. Aber können wir auch Menschen verachten? Wenn wir die Würde des Menschen wirklich ernst nehmen, dann geht das nicht zusammen mit Abspaltung und Verbannung.
Wir müssen lernen, in Kontakt mit dem Gegenüber zu bleiben. Auch wenn es unangenehm, unbequem und eng wird.
Doch wie schaffen wir das? Wir haben bei Mehr Demokratie in der Pandemie, in einer Zeit der großen gesellschaftlichen Spaltung und Zerrissenheit, ein Format entwickelt, das heißt „Sprechen & Zuhören“. Wir haben – ursprünglich aus der Not heraus – Menschen online eingeladen, um sich darüber auszutauschen, wie es ihnen mit der aktuellen Situation geht. Es ging nicht darum, was sie inhaltlich für Meinungen und Positionen hatten, sondern darum, was für Gefühle sie bewegten und zu welchen Haltungen ihre Emotionen sie brachten. Wer beispielsweise Angst vor Krankheit und Tod hatte, wurde zu einem Verfechter von harten Lockdowns und Ausgangssperren. Wer umgekehrt Angst vor staatlicher Übermacht hatte, demonstrierte auf der Straße gegen diktatorische Zustände. Und wer Angst hatte, seine Angehörigen anzustecken, verschloss sie hinter Schloss und Riegel. Sicher, ich überspitze hier etwas, aber Sie verstehen, was ich meine. Emotionen beeinflussen unser Handeln und nehmen Einfluss auch auf unsere politischen Entscheidungen. Und Emotionen lassen sich nicht mit rationalen Argumenten bearbeiten, im Gegenteil, meist kochen sie dann noch mehr hoch.
Emotionen wollen vor allem mitgeteilt, mitgefühlt und durch Resonanz und Anteilnahme wahrgenommen werden, dann lassen sie sich verändern. Das heißt, wir haben mit einer sehr einfachen Methode ein sehr wirkungsvolles Format entwickelt: Wir teilten die Teilnehmenden in Dreier-, Vierer- oder sogar Fünfergruppen auf und ließen sie sich einfach nur gegenseitig mitteilen, wie es ihnen geht, was sie innerlich wirklich bewegt. Und zwar kommentarlos! Jede und jeder hörte einfach nur zu, kommentierte nicht und argumentierte nicht dagegen. Es ging nur darum zu verstehen, was das Gegenüber erlebt und was dazu führt, dass er oder sie sich so oder so damit fühlt. Wichtig war: Alle hatten gleich viel Zeit, zu sprechen und jeder und jede kam zu Wort. Mehr nicht. Wir waren überrascht, wie sehr diese Art des Austauschs gegenseitigen Beistand, Zuneigung und Zusammenhalt förderte. Die Pandemie ist vorbei, das Format „Sprechen & Zuhören“ ist geblieben.
Inzwischen führen wir dieses Format auch in Gemeinden mit den Bürgern und Bürgerinnen vor Ort durch. Heute stellen wir auch mal die Frage: „Wann hast du in deinem Leben mal Hilfe gebraucht und nicht bekommen? Und wann hast du in deinem Leben mal anderen geholfen?“ Das sind einfache Fragen mit großer Wirkung! Sie sehen, es kommt darauf an, sich einander zuzuwenden und Brücken zu bauen.
Demokraten und Demokratinnen müssen wir werden, jeden Tag ein bisschen mehr. Wir sind es nicht automatisch.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht durch Interesse und Zuneigung. Wer sich zuwendet, wer die Komfortzone des Privaten auch mal verlässt, der tritt in Kontakt mit anderen. Und das ist das, was unsere Gesellschaft braucht und was unseren Zusammenhalt stärkt: Wir brauchen die Demokratie der Zuneigung!
Jeder Preisträger und jede Preisträgerin des Luise Kiesselbach Preises ist eine Säule der Gesellschaft. Ohne Ihren Einsatz und ohne den immensen sozialen, zivilgesellschaftlichen Einsatz, wäre unsere Gesellschaft sicher schon kollabiert.
Laut Bundesinnenministerium engagieren sich rund 29 Millionen Menschen für unser Gemeinwohl. Jede und jeder kann etwas beitragen, was anderen auch gut tut. Das Ehrenamt ist eine unverzichtbare Säule der Gesellschaft und gelebte Demokratie. Aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich wie Sie - liebe Preisträger und Preisträgerinnen - um Menschen kümmern, Menschen zusammenbringen oder Menschen unterstützen, sind ein Teil der Zuneigung, auf die es heute ankommt. Jedes einzelne soziale Projekt ist ein Beitrag zur Lösung unserer großen komplexen Probleme heute. Ihre vielfältige Kompetenz, Ihr Beitrag als Antwort auf eine gesellschaftliche Not oder Problematik macht den Kern der Hoffnung aus: Wir schaffen das, weil wir uns einbringen, da wo wir gebraucht werden!
Wir blicken in Deutschland heute auf rund 600.000 gemeinnützige Organisationen und um die 15 Millionen Ehrenamtliche, die sich für andere, für die Gesellschaft engagieren. Und heute ragen Sie aus dieser Gruppe der Engagierten besonders heraus und dürfen sich zu den stolzen Trägern und Trägerinnen und Geehrten des Luise Kiesselbach Preises zählen. Sie sind vor Ort aktiv, gehen auf andere Menschen zu, leisten Hilfreiches, Großartiges und Notwendiges für die Gesellschaft.
Ich gratuliere allen Preisträgerinnen und Preisträgern in der Kategorie Lebenswerk, Junges Engagement, Innovation im Bürgerschaftlichen Engagement, Engagement-Partnerschaften, Mitgliederpreis sowie im Schwerpunktthema dieses Jahres „Gesellschaftlicher Zusammenhalt und demokratische Teilhabe stärken“.
Ich selbst stand 1983 als Sechzehnjährige in der Menschenkette zwischen Ulm und Stuttgart, um gegen die Stationierung der atomaren Sprengköpfe in der Schwäbischen Alb zu demonstrieren. Ich war eine von vielen, meine Hände rechts und links in den Händen anderer. Als der Hubschrauber über uns flog und die Durchsage machte „Jetzt ist die Kette geschlossen!“ wusste ich, wenn ich jetzt loslasse, dann hat die Kette eine Lücke. Das war der Moment, der mich bis heute trägt: Ich hielt die Hände fest. Ich wollte auf gar keinen Fall loslassen. Ich will bis heute ein Glied in der Kette sein, auf das es auch ankommt. Ich will – wie Sie, sehr verehrte Preisträgerinnen und Preisträger - keine Lücke in der Gesellschaft sein.
In diesem Sinne fühle ich mich Ihnen, Ihrem Einsatz und Engagement sowie Ihren Initiativen sehr verbunden. Lassen Sie uns gemeinsam für das Zusammenleben auf diesem wunderbaren Planeten eintreten.
Herzlichen Dank!
Ihre Claudine Nierth
Weitere Informationen zu Mehr Demokratie e.V.
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