Paritätischer in Bayern legt Vorstudie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Misshandlungen vor
Paritätischer in Bayern legt Vorstudie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Misshandlungen vor
Die unabhängige Vorrecherche zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Misshandlungen im Auftrag des Paritätischen in Bayern bestätigt die bisherigen Erkenntnisse aus Berichten von Betroffenen und Medien. Laut der Vorstudie der Autorin, Prof. Dr. Annette Eberle von der Katholischen Stiftungshochschule München, gab es im ehemaligen Kinderheim „Haus Maffei“ in Feldafing in den 1960er Jahren eine die Rechte der Heimkinder verletzende pädagogische Praxis, sexualisierte Gewalt und Misshandlungen. Für den Verdacht eines Missbrauchsnetzwerks seien bislang keine Belege in den Archiven gefunden worden.
Die Berichte ehemaliger Heimkinder sowie Elternbeschwerden dokumentieren unter-schiedliche Formen von Gewalt im ehemaligen Kinderheim „Haus Maffei“ in Feldafing am Starnberger See. Diese umfassen demütigende Strafen, die nachhaltige Angstzustände auslösten, Prügel und andere Körperstrafen sowie sexualisierte Gewalt und Misshandlungen seitens des Heimpersonals und des Gemeindepfarrers im Ort. Auch in der zum Heim gehörenden Schule erlitten die Kinder Unrecht, sowohl durch gewalttätige Erziehungsmittel, als auch durch mangelnde Förderung und Ausbildung.
Wissenschaftliche Aufarbeitung soll auch institutionelle Verantwortung umfassen
Die Tatbestände erlittenen Unrechts erfordern nach Aussage von Prof. Eberle eine umfassende historische Aufarbeitung hinsichtlich der Verantwortung von Einrichtung, Träger sowie zuständigen Wohlfahrts- und Schulbehörden. Darauf würden die Betroffenen seit langem warten. Für diese Aufarbeitung formuliert die Vorstudie Anforderungen, Fragestellungen und Methoden.
Der Verdacht eines Missbrauchsnetzwerks, so die Empfehlung von Prof. Eberle, könne aufgrund der Quellenlage nur gemeinsam, in Form eines Forschungs- und Archivverbundes mit der Landeshauptstadt München, dem Landesjugendamt und den Schulbehörden aufgeklärt werden.
Bei den Recherchen habe sich, so Eberle, eine hohe Bereitschaft der Betroffenen und ihrer Angehörigen, des ehemaligen pädagogischen Personals, das sich bisher gemeldet hat, sowie der Bewohner*innen in Feldafing gezeigt, an der Aufarbeitung mitzuwirken. Für die Beteiligung der Betroffenen bedürfe es eines eigenen Raums, der ihren Bedürfnissen und ihrer besonderen Rolle in der Aufarbeitung entspricht. Eberle regte einen „Ort der Erinnerung und Anerkennung“ an, der in Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt München realisiert werden sollte.
Ziel der Aufarbeitung ist, das Unrecht und Leid der Betroffenen gesellschaftlich anzuerkennen. Ob das Unrecht und die schwere Gewalt in der Nachfolgeeinrichtung im „Heilpädagogischen Zentrum Lohhof“ in Unterschleißheim fortgesetzt wurden, muss ebenfalls noch untersucht werden.
Nächste Schritte sind die Anerkennung des Leids der Betroffenen und die umfassende wissenschaftliche Hauptstudie
„Wir sind immer noch bestürzt und tief berührt, dass die Taten in einer Einrichtung unseres Hauses geschehen konnten“, so Margit Berndl, Vorständin beim Paritätischen in Bayern. „Mit der Vorstudie ist der erste wichtige Schritt einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung des Unrechts im ‚Haus Maffei‘ getan.“
Die Vorsitzende des Beirats des Paritätischen in Bayern für die Aufarbeitung, Johanna Rumschöttel, ergänzt: „Die Ergebnisse der Vorrecherche sind eine wichtige und gute Grundlage für die Hauptstudie. Auf Basis der Vorstudie berät und entscheidet der Beirat über den Auftrag der wissenschaftlichen Hauptstudie.“
Nach der Entscheidung des Beirats wird der Paritätische in Bayern als nächsten Schritt die geplante Hauptstudie in Auftrag geben. Parallel entwickelt das Anerkennungsgremium transparente Kriterien für Anerkennungsleistungen. Margit Berndl abschließend: „Als Verband tragen wir die Verantwortung für eine umfassende Aufarbeitung und die Anerkennung des Leids der Betroffenen.“
Zum Hintergrund der Vorstudie:
Im Januar 2021 hat der Paritätische in Bayern Prof. Dr. Annette Eberle, Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Katholische Stiftungshochschule München, mit einer unabhängigen Vorrecherche („Vorstudie“) zu Missbrauchsfällen im ehemaligen Kinderheim Haus Maffei in Feldafing beauftragt.
Im Rahmen einer Archivrecherche sollten Dokumente und Unterlagen recherchiert, gesichtet und bewertet werden. Die bisher bekannt gewordenen Fälle sollten auf weitere Verdachtsmomente hin geprüft und vor allem die Perspektive der Kinder und Jugendlichen betont werden. Zusätzlich sollten die inhaltlichen und methodischen Grundlagen für eine umfassende unabhängige Aufarbeitung („Hauptstudie“) geschaffen werden. Prof. Dr. Eberle recherchierte dafür im Archiv des Paritätischen in Bayern, aber auch in weiteren Archiven im Umfeld von Feldafing sowie in München. Außerdem führte sie mehrere Gespräche mit Vertretern des Paritätischen, ehemaligen Mitarbeiter*innen, Betroffenen und Einwohner*innen aus Feldafing.
Zur Autorin der Vorstudie:
Prof. Dr. Annette Eberle ist Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. Als Expertin für die Geschichte der Sozialen Arbeit, insbesondere für die Kinder- und Jugendhilfe, war sie an Aufarbeitungsprojekten über Menschenrechtsverletzungen in der Fürsorge im Nationalsozialismus wie auch in der frühen Bundesrepublik beteiligt. Die von ihr initiierte Tagungsreihe „Soziale Arbeit – (k)ein Ort für Menschenrechte“ hat sich als ein Forum für den Austausch zwischen Wissenschaft, Profession und Betroffenen zur Thematik etabliert. Dabei setzt sie sich immer wieder für eine Kultur der Erinnerung ein.
Aufarbeitungsprozess des Paritätischen in Bayern:
Ende Oktober 2020 hat der Paritätische in Bayern eine umfassende Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Misshandlungen im Kinderheim „Haus Maffei“ sowie der Nachfolgeeinrichtung „Heilpädagogisches Zentrum Lohhof“ in Unterschleißheim begonnen. Im Vorfeld hatte es Kontakte und Gespräche des Vorstands des Paritätischen in Bayern mit einer privaten Recherchegruppe gegeben. Der Vorstand stufte die vorgelegten Berichte ehemaliger Heimbewohner*innen als glaubhaft und sehr ernstzunehmend ein.
Im Dezember 2020 hat der Paritätische in Bayern vier unabhängige Expert*innen gewonnen, die ihn bis zur Konstituierung des Beirats bei der Aufarbeitung beraten haben.
Im selben Monat hat der Paritätische in Bayern Betroffenen finanzielle Unterstützung angeboten. Die ersten Entschädigungszahlungen erfolgten im Februar 2021 und April 2021.
Im Dezember 2020 hat der Paritätische in Bayern auf Empfehlung der Expert*innen Kontakt mit Prof. Dr. Annette Eberle bezüglich der Durchführung einer Vorrecherche aufgenommen. Sie wurde im Januar 2021 mit der Vorstudie beauftragt.
Im Januar 2021 hat der Paritätische in Bayern eine Ombudsstelle für Betroffene und Zeitzeug*innen von sexualisierter Gewalt und Misshandlung in der ehemaligen Einrichtung des Paritätischen eingerichtet.
Im Mai 2021 hat der Paritätische in Bayern einen Aufruf an ehemalige Heimkinder aus dem Kinderheim „Haus Maffei“ in Feldafing und dem „Heilpädagogischen Zentrum Lohhof“ in Unterschleißheim sowie Zeitzeug*innen in den 60er- und 70er-Jahren gestartet.
Im selben Monat hat der Paritätische in Bayern zunächst einen internen Ausschuss eingerichtet, der transparente Kriterien für Anerkennungszahlungen und ein Antragsverfahren entwickeln und die Anträge entgegennehmen und bearbeiten sollte. Der Ausschuss hat nach Beratung mit den Expert*innen entschieden, vom Verband unabhängige Expert*innen mit diesen Aufgaben zu betrauen. Dieses Anerkennungsgremium hat im Herbst 2021 seine Arbeit aufgenommen. Die Mitglieder sind:
- Prof. Dr., Dipl.-Päd. Barbara Seidenstücker, Professorin im Studiengang Soziale Arbeit, Ostbayerische Technische Hochschule (OTH) Regensburg
- Sybille Kuthe, Rechtsanwältin, Rechtsanwaltskanzlei Dr. Musella & Collegen Freiburg; stellv. diözesane Beauftragte zur Prüfung des Vorwurfs von sexuellem Missbrauch Minderjähriger in der Erzdiözese Freiburg sowie
- Ulrike Leimig, Dipl. Soz.-Päd. (FH), Mediatorin (DGM), Fachstelle für Täter-Opfer-Ausgleich der Nothilfe Birgitta Wolf e.V. Murnau
Im Oktober 2021 hat sich der Beirat des Paritätischen in Bayern zur Aufarbeitung konstituiert und Johanna Rumschöttel als Vorsitzende gewählt. Mitglieder im Beirat sind:
- Dr. Barbara Horten, Internationale Kriminologie (M.A.), Soziologie/Erziehungswissenschaft (B.Sc.), Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg
- Prof. Dr. Heinz Kindler, Dipl. Psychologe, Deutsches Jugendinstitut München, Leiter der Fachgruppe 3 "Familienhilfe und Kinderschutz"
- Ulrike Leimig, Dipl. Soz.-Päd. (FH), Mediatorin (DGM), Fachstelle für Täter-Opfer-Ausgleich der Nothilfe Birgitta Wolf e.V. Murnau
- Prof. Dr. jur. Susanne Nothhafft, Professorin für Recht in der Sozialen Arbeit, Katholische Stiftungshochschule München
- Johanna Rumschöttel, ehemalige Landrätin
- Sabine Böhm, frauenBeratung Nürnberg, Vertreterin des Verbandsrats des Paritätischen in Bayern sowie
- Margit Berndl und Peter Schimpf, Vorstände des Paritätischen in Bayern
Über den Stand der Aufarbeitung informiert der Paritätische in Bayern auf seiner Webseite: www.aufarbeitung-paritaet-bayern.de
Auf Anfrage stellen wir Ihnen die Vorstudie zur Verfügung. Bitte schicken Sie dazu eine E-Mail an aufarbeitung(at)paritaet-bayern.de.
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